Die Stellungnahme der Leopoldina vom 8. Dezember, die eine starke Verschärfung des Lockdowns forderte, sei „ein ganz eindeutiges Beispiel von politischem Missbrauch von Wissenschaft“, sagte Esfeld der „Bild“ (Montagausgabe). Die beteiligten Wissenschaftler hätten sich „von der Macht verführen lassen“ und „alle wissenschaftlichen Standards und jegliche Verantwortung über Bord“ geworfen.
Der Wirtschaftsphilosoph warnt vor einer Instrumentalisierung der Wissenschaft durch die Politik. Zu „Bild“ sagte Esfeld: „Die Bundesregierung zieht derzeit vor allem jene Wissenschaftler zu Rate, die bereit sind, dies zu sagen, was die Regierung auch hören will. Das schadet massiv der Reputation der Wissenschaft.“ Dies führe zwangsläufig „zu einer populistischen Gegenreaktion gegen die Wissenschaft als ganze“. Esfeld kritisiert, dass die Bundesregierung in einem „transparenten, öffentlichen und kritischen Diskurs nie hätte durchsetzen können“. Deshalb, so der Professor, „setzte man Wissenschaftler ein, die mit großer Autorität in der Öffentlichkeit den Regierungskurs verteidigten. Diese Wissenschaftler haben sich von der Regierung für Propaganda einspannen lassen“.
Neuer Angriff auf Leopoldina
Diese regelrechte Abrechnung ist der bereits zweite Angriff von Prof. Dr. Michael Esfeld auf die „Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina“. Der Professor für Wissenschaftsphilosophie (Uni Lausanne) erhob bereits im Dezember massive Vorwürfe gegen die Akademie, der er selbst nach eigenen Aussagen seit 2010 angehört.
Damals forderte er in einem Schreiben (liegt Regio-Journal vor) an Prof. Haug, den Präsidenten der Leopoldina, die Rücknahme der Stellungnahme, in der unter Anderem der harte Lockdown gefordert wurde.
Esfeld sagte: „Mit Bestürzung habe ich die heute veröffentlichte Stellungnahme der Leopoldina zur Kenntnis genommen, in der es heißt: „Trotz Aussicht auf einen baldigen Beginn der Impfkampagne ist es aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl an Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern. “Diese Stellungnahme verletzt die Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Redlichkeit, auf denen eine Akademie wie die Leopoldina basiert. Es gibt in Bezug auf den Umgang mit der Ausbreitung des Coronavirus keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die bestimmte politische Handlungsempfehlungen wie die eines Lockdowns rechtfertigen“.
Esfeld kritisiert im Wesentlichen, dass man es mit einer „üblichen wissenschaftlichen Kontroverse“ zu tun haben, bei der die scharfen politischen Maßnahmen von Wissenschaftlern unterschiedlich bewertet würden.
Es führte aus: „Im weiteren Kreis der Wissenschaftler ist höchst umstritten, ob der Nutzen scharfer politischer Maßnahmen wie ein Lockdown die dadurch verursachten Schäden aufwiegt –und zwar Schäden an zukünftigen Lebensjahren, die in Deutschland und anderen entwickelten Ländern infolge eines Lockdown verloren gehen, Todesfälle durch einen erneuten Anstieg der Armut in den Entwicklungsländern usw. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Studien, gemäß denen die verlorenen Lebensjahren den maximal erreichbaren Nutzen geretteter Lebensjahre um ein Vielfaches übersteigen werden.“
Prof. Dr. Esfeld schloss mit den Worten: „In einer solchen Situation wissenschaftlicher und ethischer Kontroverse sollte die Leopoldina ihre Autorität nicht dazu verwenden, einseitige Stellungnahmen zu verfassen, die vorgeben, eine bestimmte politische Position wissenschaftlich zu untermauern. Ich möchte Sie daher höflichst bitten, die entsprechende Stellungnahme umgehend als Stellungnahme der Leopoldina zurückzuziehen.“
An dieser Stelle sei erwähnt, dass diese Kritik in keinen großen Medien veröffentlicht wurde. Ob die Leopoldina oder ihr Präsident sich zu den Vorwürfen geäußert haben, ist uns derzeit nicht bekannt.
Hintergrund: Diese Empfehlung der Leopoldina kritisierte Esfeld
Kubicki: „Befürchte, dass die Wut irgendwann in Gewalt umschlägt“
Doch nicht nur Leopoldina-Mitglied Esfeld kritisiert das Vorgehen der Bundesregierung. Erste auch hochkarätige Journalisten, wie beispielsweise Jan Fleischhauer, kritisieren Impfstoffbeschaffung der EU sowie Maßnahmenpakete der Bundesregierung zunehmend. Auch Bundestags-Vize-Präsident Wolfgang Kubicki (FDP) zeigte sich im „Bild-Talk“ kritisch. Er kritisierte die Bundesregierung dafür, dass die Überbrückungshilfen zu zäh fließen: „Die Überbrückungshilfe III kann frühestens Ende März fließen, wenn sie jetzt beantragt wird.“ Er befürchte, „dass die Wut irgendwann in Gewalt umschlägt“.
Generell zeigen sich führende Politiker zunehmend unzufrieden mit dem Management der Bundesregierung. Hamburgs regierender Oberbürgermeister Peter Tschentscher (SPD) kritisierte beispielsweise das katastrophale Impfstoff-Desaster der EU: „Das muss man nicht schön reden: die Impfstoffbeschaffung in der EU ist natürlich schief gelaufen. Es wurde zu spät bestellt. Es wurde gerade jetzt für den Beginn zu wenig bestellt. Und deswegen dauert es jetzt zu lange“.
Gleichzeitig forderte der SPD-Politiker EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) auf, das Debakel aufzuklären und auch vor Personaldebatten nicht zurückzuschrecken. Dennoch kann sich der Hamburger Bürgermeister vorstellen, dass „wir im Sommer sehr viel besser dastehen“. Er rechne noch mit „leichten Mitteln“ wie einer Maskenpflicht. „Viel wichtiger wäre aber, dass die Kultur wieder beginnen kann, dass wir wieder Sport machen können“.
Ex-Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) klagte bei „BILD“: „Man kann vieles nicht mehr erklären – ich kann auch vieles nicht mehr erklären: Dass der Facheinzelhandel vollkommen geschlossen bleibt, dass im Lebensmitteleinzelhandel bei den großen Discounter die nicht Lebensmittelprodukte im großen Stil verkauft werden. Dass Baumschulen auf offenem Feld nicht verkaufen dürfen und ähnliche Dinge.“
Illingens Bürgermeister bei Bild
In der Talk-Runde war auch Illingens (Saarland) Bürgermeister Armin König (CDU) vertreten, der durch ein emotionales Posting auf Facebook Aufmerksamkeit erregt hatte. König erklärte, dass ein Teil der Bevölkerung nicht mehr „verstehe, was da gespielt wird. Es gab Regeln, die festgelegt wurden“. Diese werden nun willkürlich geändert. „Die Spielregeln werden geändert. Alles ist anders als wir bisher erwartet haben – und plötzlich haben Leute keine Perspektiven mehr“, so das bittere Fazit des Bürgermeisters.
Der streitbare, aber konsequente Bürgermeister, der durch seine Diskussionen um das Thema RAG / Grubenwasser zunehmend an Gewicht gewann, äußerte sich bereits nach der Lockdown-Verlängerung kritisch. In einem flammenden Appell an die Politik sagte er: „Ich bin der Zukunft zugewandt: Wie andere auch denke ich in Zukunftsvarianten mit Szenarien. Dafür hat man dort, wo entschieden wird, vielleicht keine Antenne. Das muss ich so akzeptieren. Leicht fällt mir das aber nicht. Es lässt mich und viele andere ratlos zurück. Unterschätzt das nicht, ihr Regierenden. Ihr seid gerade dabei, uns zurückzulassen. Das wäre fatal. “
Es folgt eine bittere Abrechnung mit der bisherigen Corona-Poltik: „Zukunft kann man nur gewinnen, wenn man eine Zukunft HAT. Wirtschaft kann nur dann wieder anspringen, wenn es sie noch GIBT. Kinder können nur dann wieder lachen, wenn sie etwas zu lachen HABEN. Und wenn ihre Eltern nicht in Depression landen. Bildung gibt es nur, wenn man sie MIT BEGEISTERUNG VERMITTELT. Kultur lebt nur, wenn man ihr RAUM UND BÜHNE gibt. Und der Mittelstand besteht nicht nur aus Friseuren, so sehr ich sie mag und brauche und schätze.“
König prangert weitere Versäumnisse der Landes- aber auch Bundespolitik an: „Es gibt noch immer keine FAIRNESS im Handel. Es gibt noch immer keine CHANCE für die Kultur. Es gibt seit Monaten keinen knallharten, systemischen Schutz für Altenheime, Krankenhäuser, medizinisches Personal, Pfleger*innen. Seit EINEM JAHR wird die einheitliche Digitalisierung NICHT umgesetzt, sondern immer wieder VERSCHLEPPT. Hundert Käufer*innen an zehn Kassen der KAUFLANDGLOBUS-Supermärkte, die ALLES mitnehmen. Hunderte Einzelhändler, in deren geschlossenen Läden nicht EIN Kunde sein darf.“
Königs Ausführungen sind in diesem Zusammenhang deckungsgleich mit den Kolumnen, die wir hier auf Regio-Journal seit Monaten veröffentlichen.