Paul Plener, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am „AKH Wien“ sagte am 27. Januar dem ORF-Radio, dass immer häufiger gesunde Kinder ohne Vorbelastungen aus „liebevollen Familien“ zu Patienten werden. Sie leiden unter schweren Störungen, so Plener.
Die Abteilung sei so überlastet, dass es sogar zu einer gewissen Triagierung komme: „Wir müssen bereits triagieren, das heißt, wir müssen entscheiden, wer sofort eine Behandlung bekommt und wer nicht“, sagt Plener.
„Es kommen mehr, und die Zustandsbilder sind deutlich akuter und schwerer ausgeprägt, sodass Patienten, die weniger akut sind, aber trotzdem einer stationären Aufnahme bedürfen würden, natürlich auch nachgereiht werden müssen im Sinne einer gewissen Triagierung“.
Man könne seit Jahresbeginn ein Muster erkennen. Essstörungen würden enorm zunehmen, ebenso „deutlich depressive Episoden“.
Kinder berichten, so der ORF weiter, von „großer Erschöpfung, großer Müdigkeit, Antriebslosigkeit und Stimmungsverschlechterung leiden würden“. Sogar Suizidgedanken, auch Suizidversuche in der jüngeren Vergangenheit seien ein Thema.
Es gäbe, so Plener, viele Gründe für den Anstieg der jungen Patientinnen und Patienten, beispielsweise die Schulschließung sowie der soziale Rückzug, aber auch der Verlust von positiven Erlebnissen im Alltag und fehlender sozialer Kontakt.
Mehr Regelmäßigkeit gefordert
Der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie wünscht sich, dass „jedes Mittel genutzt wird“, um Schulen wieder zu öffnen, selbst wenn dann die Kinder täglich Coronavirustests erdulden müssten. Auch das Tragen von Masken und regelmäßiges Lüften wäre ok.
Generell empfiehlt Plener, dass Eltern mit ihren Kinder regelmäßige Tagesstrukturen einhalten, beispielsweise tägliches Rausgehen. Alles was Struktur bietet und einen normalen Tagesablauf ermöglicht, sei hilfreich.
Ähnliche Studie aus England
Bereits Mitte Dezember 2020 wurde eine Studie in England veröffentlicht, die einen Anstieg „depressiver Verstimmungen“ bei Kindern feststellte.
Dennoch gebe es auch heute kaum Studien darüber, welche Auswirkungen die Lockdowns auf die Psyche der Kinder haben, schreibt beispielsweise das Ärzteblatt.
Kinder haben in Deutschland wenig Lobby
Es ist verwunderlich, dass es wenig Meldungen über dieses Thema in Deutschland zu geben scheint. Offenbar haben Kinder kaum Lobby.
Der WDR hat immerhin vor wenigen Tagen ein Interview mit Dr. Heiner Ellebracht, dem Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der DRK-Kinderklinik in Siegen geführt. Und auch er kommt zu dem Schluss, dass die Psyche durch die anhaltenden Lockdowns belastet wird.
Ellebracht sagte: „In der jetzigen Corona Krise gibts natürlich eine starke Zunahme körperlicher und seelischer Beschwerden durch die Schul- und Kita-Schließungen sowie die Kontaktbeschränkungen. Der Grund dafür sind die starken Einschnitte, die fehlenden Freizeit- und Spielmöglichkeiten der Kinder. Sie hängen oft viel zu lang vor dem Computer und dem Handy“.
Dies führe zu Konflikten, verstärkter Isolation oder „großer Enge in kleinen Wohnungen“. Auch würden Ängste der Eltern häufig auf Kinder übertragen.
„Die Kinder leiden teilweise an Hyperaktivität, emotionalen Problemen, Verhaltensproblemen. Aber auch psychosomatische Probleme, wie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen und Einschlafprobleme kommen vor“, führt Dr. Ellebracht aus.
Sollte der Lockdown noch „sehr lange anhalten“, sieht der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie die Gefahr, dass „die kognitiven und motorischen Fähigkeiten eingeschränkt werden. Vor allem Jugendliche sind darauf angewiesen, dass sie mit Gleichaltrigen zusammenkommen und da ihre Erfahrungen machen“.
Ob es zu Langzeitschäden kommen wird, konnte Ellebracht nicht beurteilen. Er halte Kinder für sehr stark. Sie seien in der Lage Ausgleich zu schaffen. „Trotzdem wird es Probleme geben, wie diese genau aussehen, kann ich noch nicht abschätzen“, so Ellebracht.
Es gebe aber auch positive Dinge: Schaffen es Eltern, die familiären Kontakte so zu gestaltet, dass es „in Ordnung“ ist, könnten sich Beziehungen und Verbindungen verbessern. Bereits ältere Kinder und Jugendliche könnten besser lernen, sich im digitalen Raum zu bewegen, was sie später im Berufsleben nutzen können.
Eltern rät Ellebracht, für ihr Kind da zu sein. „Eine vertraute Bezugsperson sollte in der Nähe sein, es sollte eine Struktur geben, wie feste Essens- und Schlafenszeiten. Das kann schon Sicherheit geben. Und Kinder sollten sich körperlich betätigen. Trotzdem aber auch mal entspannen und spielen können“.
Trotzdem sollten Eltern darauf achten, dass die Kinder nicht zu viel Zeit mit „Medien“ verbringen.
Eine ähnliche Einschätzung gibt auch Dominik Schneider, Direktor der Westfälischen Kinderklinik in Dortmund ab.
Schneider erklärt in einem Interview gegenüber dem Deutschlandfunk, dass die überwiegende Meinung von Eltern und Kindern sei, „dass es mit dem Schulunterricht im Home Schooling wirklich nicht gut funktioniert – dass die Kinder und die Eltern sich oft allein gelassen fühlen“.
Die psychische Belastung nehme deutlich zu, ebenso die Rate von depressiven Störungen und pathologischem Medienkonsum, so Schneider weiter. Zudem sei immer mehr die Gewichtszunahme durch schlechte Ernährung bei Kindern festzustellen.
Schneider: „Wir sehen Kinder aus dem Dortmunder Süden, die bei uns kollaptisch in die Klinik kommen, weil sie über eine Woche kaum geschlafen haben, sondern nur kontinuierlich Computer gespielt haben – mit zwei, drei Stunden Schlaf.“
Der Mediziner führte weiter aus, dass sich Kinder grundsätzlich in drei großen sozialen Räumen bewegen würden: In Familie, in der Schule sowie bei Freunden bzw. in Hobbys. „Wir haben mit diesem harten Lockdown den Kindern zwei von diesen drei sozialen Räumen genommen. Das heißt, sie sind in ihrer Lebensrealität viel stärker eingeschränkt, als die meisten erwarten“, sagte Schneider.
Der Klinikdirektor plädierte dafür, dass deshalb alles, was Kindern an Einschränkungen zugemutet werde, auch wissenschaftlich gut begründet sein müsse.
Gassen: „Massive Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten“
Eine ähnlich dramatische Entwicklung sieht auch Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. „Schon jetzt berichten Kinderärzte und Jugendtherapeuten über eine massive Zunahme von Kindern, die verhaltensauffällig sind“, so Gassen gegenüber der Rheinischen Post. Dies sei kein Wunder, „wenn sie über Wochen keine anderen Kinder zum Spielen und keine strukturierten Tage mehr haben“.
Aus diesem Grund fordert Gassen möglichst schnelle Lockerungen: „Schulen sollten so schnell wie vertretbar wieder geöffnet werden. Wir vernichten sonst Bildungschancen der Kinder.“
In Schulen kämen zwar viele Menschen zusammen, Infektionstreiber seien sie aber nicht.
Merkel bittet um Geduld – Regierungssprecher weiß von nichts
Ob all diese medizinischen Bedenken bei der Bundeskanzlerin ankommen, ist fraglich. Gebetsmühlenartig spricht die Bundeskanzlerin von einem „gewaltigen Kraftakt“ der Familien und bittet erneut um Geduld. So auch in ihrem aktuellen Video-Podcast: „Noch sind wir nicht so weit, Kitas und Schulen wieder öffnen zu können“, so Merkel.
Man setze alles daran, Kitas und Schulen als Erstes wieder öffnen zu können, „um den Kindern ein Stück ihres gewohnten Alltags wiederzugeben und um Familien zu entlasten“, so Merkel.
Dass Kinder und Jugendliche auf soziale Kontakte verzichten müssen, nannte sie „bitter“. Dies ist angesichts der Warnungen eine Untertreibung.
Wie wenig im Bundesministerium für Gesundheit offenbar über die Erkrankungen von Kindern bekannt ist, bewies der Sprecher von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der von Kollege Boris Reitschuster auf der Bundespressekonferenz heftig ins Schlingern gebracht wurde.
Der hartnäckige und unbequeme Journalist fragte, ob in der Regierung Informationen über die psychische Gesundheit bekannt seien. Die Antwort verblüffte: Nach „aktuellen Auswertungen des RKI zur gesundheitlichen Lage in Deutschland in der Anfangsphase der COVID-19-Pandemie gibt es bislang keine Hinweise darauf, dass sich die Zahl der psychischen Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung durch die Coronakrise erhöht hat“, so Hanno Kautz.
Dass seit Wochen in einzelnen Interviews immer wieder dramatische Zahlen und Entwicklungen bestätigt wurden, ging offenbar am Bundesgesundheitsministerium vorbei.
Ebenso verwunderlich war die Antwort von Regierungssprecher Steffen Seibert auf Reitschusters Frage, mit wie vielen Kinder- oder Jugendpsychologen sich die Kanzlerin im Zusammenhang mit den Maßnahmen beraten hätte: „Die Bundesregierung nimmt wissenschaftliche Stellungnahmen, wissenschaftliche Studien und Erkenntnisse aus allen Richtungen, die die Pandemie betreffen, zur Kenntnis. Die Bundeskanzlerin hat in den vergangenen Monaten eine Vielzahl von wissenschaftlichen Gesprächspartnern und Informationsgebern gehabt, und das wird auch weiterhin der Fall sein. Ich erinnere mich beispielsweise, dass Professor Berner, dessen Fachgebiet meiner Meinung nach Kinder und Jugendliche sind, an einer der Vorbereitungssitzungen teilgenommen hat. Ich denke aber, die Ressorts wären noch mehr in der Lage, Ihnen zu sagen, wie dort Studien aufgenommen wurden, was die Situation von Kindern und Jugendlichen. ihre Bildungssituation, ihre soziale Situation betrifft.“
Nach diesem Schlingerkurs hakte eine ARD-Reporterin nach und wollte wissen, ob es „überhaupt schon einmal einen Kinder- und Jugendpsychologen“ gegeben habe, „der in einer vorbereitenden Sitzung dabei gewesen“ sei. Seibert: „Nein.„
Diese Antwort lassen wir an dieser Stelle unkommentiert stehen und beenden diesen Artikel. Das Video zur Bundespressekonferenz mit den hier belegten Zitaten finden Sie bei Boris Reitschuster – und noch zahlreiche weitere unbequeme Fragen, die die Sprecher der Regierung regelmäßig in Verlegenheit bringen: Zu Boris Reitschuster
Bildquellen
- Traurige Jugendliche: Regio-Journal