Die Diskussionen über die Rückkehr zu Grundrechten von Unternehmen, ihre Tätigkeit wieder aufnehmen zu können, nehmen an Tempo auf. Erste Bundesländer, darunter das Saarland, verkündeten bereits „Lockerungen“ (diesen Ausdruck empfinden wir als unpassend, wenn es um die Rückkehr zu Grundrechten geht!).
Demnach dürfen beispielsweise ab 01. März Friseure, körpernahe Dienstleistungen, Gartencenter im Außenbereich etc. den Betrieb wiederaufnehmen (Weg aus dem Lockdown im Saarland).
Offenbar hatten die Politikerinnen und Politiker das seit 18.02. verfügbare Strategiepapier des Robert-Koch-Instituts nicht zur Hand. Darin erläutern die Wissenschaftler den Weg zurück zu der Normalität.
In dem Schreiben, das Regio-Journal vorliegt heißt es: „Das hier vorgeschlagene Stufenkonzept soll als Hilfestellung verstanden werden, die die Entwicklung von Stufenplänen für den Einsatz bevölkerungsbezogener antiepidemischer Maßnahmen möglichst evidenzbasiert unterstützt“.
Änderung der Bewertungsstrategie
Die Wissenschaftler vom Robert-Koch-Institut schlagen ein anderes Vorgehen als das seit Monaten praktizierte vor. Ein einzelner Indikator wie die 7-Tages-Inzidenz sei „nicht ausreichend“, um die Komplexität der Pandemie korrekt zu bewerten.
Stattdessen sollen auf lokaler Ebene vier Faktoren zur Bewertung herangezogen werden. Diese sind, neben der 7-Tages-Inzidenz auch
- die Inzidenz der Infizierten über 60-jährigen, die stationär im Krankenhaus behandelt werden
- der Anteil der nachverfolgbaren Kontaktpersonen von Infizierten
- die Reproduktionszahl
- zusätzlich: der Anteil an Virusvarianten / Mutationen, Anteil der Fälle ohne ermittelbare Infektionsquelle, Anzahl, Größe und Setting der Ausbruchsgeschehen
Empfehlungen an Lokalpolitiker
Mit Blick auf die politischen Entscheidungen, ob Corona-Maßnahmen zurückgenommen oder verschärft werden, rät das Robert-Koch-Institut dazu, unterschiedliche Indikatoren in den Blick zu nehmen. Im Falle eines Ausbruchs sollten die Kommunen vor allem auf die Sieben-Tages-Inzidenz achten, bei der Deeskalation, also bei der Rücknahme der Maßnahmen sollte auf die Belegung der Intensivstationen geachtet werden.
Auf Bundeslandebene sollte die Rücknahme von Maßnahmen erst dann erwogen werden, wenn ein „überwiegender Anteil“ der Kommunen geringe Infektionswerte aufweisen.
Bewertung des Infektionsrisikos
Das Robert-Koch-Institut hat außerdem dem Leitfaden auf Basis wissenschaftlicher Untersuchungen eine „Heatmap“ über die Bedeutung unterschiedlicher Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens hinzugefügt. Aus ihr geht hervor, wo ein besonders hohes und ein niedriges Risiko für Infektionen mit dem Sars-CoV-2-Virus bestehen.
Besonders auffällig ist, dass sehr viele Bereiche, die derzeit stark reglementiert oder gar vollständig geschlossen sind, in den Überlegungen des Robert-Koch-Instituts keinerlei ernsthafte Relevanz zu haben scheinen.
So gelten laut RKI Zusammenkünfte im Freien als unproblematisch und wurden mit einem „niedrigen Infektionsrisiko“ bewertet. Ähnlich sieht es bei Parks und Spielplätzen, Hotels, Personenverkehr „fern“ und im Einzelhandel aus. Friseure, Kosmetik und Körperpflege-Betriebe werden mit einem „niedrig bis hohem“ Risiko beschrieben, hier sei das „Setting“ maßgebend. Betriebe und Unternehmen gelten Branchenabhängig von „unkritisch“ bis zu einem „hohen Infektionsrisiko“.
Ein moderates Infektionsrisiko hingegen zeigen Kultureinrichtungen wie Theater, Kino und Museen, Religiöse Zusammenkünfte, der öffentliche Personennahverkehr, Universitäten, Weiterführende- und Berufsschulen, die Gastronomie und Kitas und Grundschulen.
Ein hohes Risiko für Infektionen bergen Bars und Clubs, Alten- und Pflegeheime sowie Zusammenkünfte in Innenräumen. Hier befürchtet das RKI vielfach ein sehr hohes Risiko sowie einen ausgeprägten Anteil an der Dynamik der Infektionen. In diesen Bereichen kommt es, so die Wissenschaftler weiter, häufig zu schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen.
Intensitäts-Stufenkonzept hochkomplex
Mit einem vom RKI als „Intensitäts-Stufenkonzept“ schlüsseln die Wissenschaftler auf, bei welchen Inzidenzen Maßnahmen ergriffen werden sollen. Hierbei unterteilen die Experten die 7-Tages-Inzidenz in vier Stufen: Die Basisstufe (Inzidenz <= 10), Intensitätsstufe 1 (<= 35 bis >10, grün), die Inzidenzstufe 2 (<= 50 bis > 35, gelb) sowie die Inzidenzstufe 3 (Inzidenz > 50, rot).
Bei der Intensitätsstufe 3 (7-Tages-Inzidenz von höher/gleich 50 / Mehr als 12% Anteil intensivmedizinisch behandelter Covid-19-Patienten) rät das Papier kaum zu Öffnungen. Die RKI-Vorlage entspricht an dieser Stelle nahezu komplett der bisherigen bundesweiten Regelung.
Bei der Intensitätsstufe 2 (7-Tages-Inzidenz zwischen 50 und 35 / zwischen 12 und 5 % Anteil intensivmedizinisch behandelter Covid-19-Patienten) sehen die Wissenschaftler eher Potenzial für Öffnungen. Hier wären deutliche Lockerungen bei privaten Treffen, Kitas, Schulen sowie dem Einzelhandel möglich.
Ernsthafte Öffnungen, beispielsweise für die Gastronomie, schlägt das Papier ab einer Inzidenz von unter 35 vor. Dann könnte die Intensitätsstufe 1 (Inzidenz unter 35, zwischen 5 und 3 % Anteil intensivmedizinisch behandelter Covid-19-Patienten, einer 80-90%igen Nachverfolgbarkeit der Kontaktpersonen und die wöchentliche Inzidenz der 60-Jährigen Krankenhauspatienten muss zwischen 3 und 4 % liegen). Dann könnten sich mit Schutzkonzept „weniger als 50“ Personen in Innenräumen treffen, im Freien könnten Zusammenkünfte bis 500 Personen möglich werden und in Altenheimen könnte wieder mehr Besuch empfangen werden.
Die Basisstufe läge die Inzidenz bei kleiner oder gleich zehn. Hier stünde mit Schutzkonzepten „alles offen“. Treffen in Innenräumen wären jedoch weiterhin auf unter 100 Personen beschränkt – Treffen in Freien auf maximal 1000 Menschen.
Hier dürfte der Anteil der intensivmedizinisch behandelten Covid-19-Fälle nicht über 3 Prozent steigen, die Kontaktnachverfolgungsrate müsste 90 Prozent oder mehr betragen und die Inzidenz der wöchentlich hospitalisierten über 60-Jährigen dürfte nicht über 3 steigen.
Für Urlaubsreisen in das Ausland zeigt das Strategiepapier keine Möglichkeiten auf. Auch Virusmutationen sind nicht berücksichtigt. Das Modell zeigt einzig, dass Öffnungsschritte ab einer Inzidenz von weniger als 35 möglich sind. Alles über 35 ändert wenig am aktuellen Status quo.
Quelle: RKI Positionspapier „ControlCOVID“ – Strategie und Handreichung zur Entwicklung von Stufenkonzepten bis Frühjahr 2021
Bildquellen
- RKI Toolbox Stufenkonzept: Robert-Koch-Institut
- Intensitäts Stufenkonzept: RKI