Man könnte von verkehrter Welt sprechen: Noch am Mittag trauerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier um mehr als 80.000 Verstorbene in der Corona-Pandemie. Am Abend dann bei Anne Will Wahlkampf unterster Schublade.
Zu Gast im TV Talk: Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), Katrin Göring-Eckardt (B90 / Grüne), Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD), FDP-Chef Christian Lindner, Journalistin Melanie Amann (Spiegel) und Mediziner und NoCovid-Mitglied Michael Hallek.
Thema der Sendung war die Bundes-Notbremse sowie die Frage, ob sich mit ihr die dritte Welle brechen lasse.
Wer in der Runde fehlte? Ein Virologe, der aus medizinischer Sicht Aussagen der Politiker widerlegen könne.
Michael Hallek stammt aus dem Bereich der medizinischen Wissenschaft.
Am Ende stand eine WildWest-Schießerei, bei der Moderatorin Anne Will die Kontrolle verlor und noch vor Sendezeitende an die Tagesschau übergab.
Während zu Beginn Michael Hallek eindrucksvoll die Realsituation im Kölner Krankenhaus beschrieb. Man wende bereits jetzt eine „Weiche Triage“ an, in dem man wichtige OPs verschiebe. Zwei Drittel der Krankenhäuser mit Intensivstationen seien „nicht mehr aufnahmefähig“, man brauche schnelle und weit gedachte Entscheidungen der Politik.
Hallek kritisierte insbesondere, dass diese Situation auf Ansage gekommen wäre. Experten warnten bereits im Januar vor der nun eingetretenen Situation.
Umso verwunderlicher, dass der CDU-Wirtschaftsminister in Wildwest-Manier von NoCovid-Mitglied Hallek „Vorschläge zur Lösung“ einforderte. Diese liegen von allen Wissenschaftlern, die die Regierung beraten, seit Monaten auf dem Tisch. Dies hat der Minister offenbar übersehen. Diese Aussage reihte sich in eine Reihe von wahllosen, inhaltlich bedenklichen und oft von spürbarer Aggression geprägten Sätzen des Bundesministers für Wirtschaft ein, der offenbar auch spürbar mit dem für ihn zu klein geratenen Sessel kämpfte.
Altmaier legte nach, dass der CDU und ihm die 200er Inzidenz für Schulschließungen zu hoch sei. Man würde auch die 100 befürworten. Dies brachte Grünen-Fraktionsvorsitzende Göring-Eckardt mächtig auf die Palme: „Das geplante Gesetz ist zu lasch bei der Arbeitswelt, da wird nichts angepackt.“ Stattdessen würde man im Privatbereich mächtig eingreifen. Spiegel-Journalistin Amann packte sich Altmaier und fragte, weshalb es für Schüler eine Testpflicht zweimal pro Woche gebe, nicht aber für Arbeitnehmer.
Altmaier strauchelte mächtig, sprach von der „großen Bereitschaft“ der Arbeitgeber zum Testen und davon abgesehen seien in seinem Ministerium 75 Prozent der Mitarbeiter im Homeoffice. Was dies mit dem Thema zu tun hat? Keine Ahnung …
Man merkte dem Wirtschaftsminister an, dass er sich in die Enge getrieben fühlte, mehrfach zeigte er mit erhobenem Finger, leicht aggressiv und empört auf die Talkgäste. FDP-Chef Lindner sprang ihm zur Seite und konstatierte, dass eine Testpflicht bei Betrieben aus seiner Sicht keinen Nutzen habe.
Generell war der FDP-Chef „Anti“-alles. Die gescheiterte Osterruhe habe Vertrauen erschüttert. Man müsse das Parlament mit einbeziehen, es müsse alles schneller gehen, heute würden die Länder ausgeschlossen und dürften nicht bei dem Bundesgesetz mitwirken. Und jetzt auch noch diese undifferenzierten Ausgangsbeschränkungen, bei denen ein geimpftes, älteres Ehepaar nicht mehr nach 21 Uhr spazieren gehen dürften.
Die Spiegel-Journalistin stellte nüchtern fest: „Herr Lindner, Sie müssen sich irgendwann auch mal entscheiden, was sie eigentlich wollen“.
Während der Sendezeit wird hauptsächlich Peter Altmaier gegrillt. Dieser verbiegt sich mehrfach unbeholfen auf dem Stuhl, streckt die Beine Aus und wütet mit hochrotem Kopf. „Hauptsächlich kommen die Infektionen aus dem privaten Bereich“. Göring-Eckardt hielt entgegen: „Direkt danach kommen die Betriebe!“. Altmaier danach: „Wir haben ja auch eine Angebotspflicht für Tests in Unternehmen“. Anne Will wirft ein, dass dies nur einmal pro Woche sei.
Bemerkenswert: Unternehmen müssen ihren Mitarbeitern Tests anbieten. Arbeitnehmer müssen sie aber nicht durchführen. Es reicht also grundsätzlich, die Tests im Schrank liegen zu haben … So viel zur Altmaierschen „Angebotspflicht“.
Zum Thema Ausgangssperre hat auch Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) eine klare Meinung. „Die Beratung aus der Wissenschaft ist eindeutig, dass drinnen mehr passiert als draußen – sowohl im beruflichen wie im privaten Umfeld„, sagt Müller. Er lehnt eine nächtliche Ausgangssperre ab.
Müllers weiter: „In der Großsiedlung Gropiusstadt leben 50 000 Menschen. Keiner hat einen Garten, keiner eine Terrasse. Menschen auf engstem Raum, abends keine privaten Kontakte, und jetzt soll man auch nicht mehr joggen gehen können. Da muss ich kein Wissenschaftler sein, um zu verstehen, was das anrichtet!“
Am Ende ist es statt Anne Will Medziner Hallek, der die Runde auf den Boden der Tatsachen zurückholt: „Wir bekommen in den Krankenhäusern das Gefühl, dass unsere Demokratie nicht mit der Pandemie so zurechtkommt, dass wir und unsere Patienten uns sicher fühlen können.“
Schweigen in der Runde. „Es liegt an Ihnen, dieses Vertrauen wieder herzustellen“, so Hallek weiter.
Der Mediziner legt nach, dass es an den Parteien läge, den Wahlkampf zur Seite zu schieben und gemeinsam an einem Strang zu ziehen, damit diese Pandemie beendet werden könne.
Es brauche noch ein bis zwei Monate Durchhaltekraft und Maßnahmen, damit es ein „guter Sommer“ werden könne.
Fazit: Keine Einigung, kaum Konsens, viel Wahlkampf. Die Politiker der Talkrunde beweisen erneut, dass sie zu einer solidarischen Zusammenarbeit kaum fähig sind. Einzig Göring-Eckardt verzichte weitgehend auf populistischen Wahlkampf und klang Lösungsinteressiert.