„Wir halten unser Versprechen: Jeder, der will, kann im Sommer geimpft werden“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Montag. Man habe genügend Impfstoff für alle Altersgruppen.
„Auch 12- bis 17-jährige Kinder und Jugendliche, die sich nach ärztlicher Aufklärung für eine Impfung entscheiden, können sich und andere mit einer Impfung schützen. Deshalb ist es gut, dass die Länder auch dieser Altersgruppe möglichst niedrigschwellig ein Impfangebot machen wollen.“ Ein solches Angebot zur individuellen Entscheidung stehe im Übrigen im Einklang mit den Empfehlungen der STIKO. „Mit der Möglichkeit einer Auffrischimpfung im September wollen wir die besonders gefährdeten Gruppen im Herbst und Winter bestmöglich schützen. Denn für sie ist das Risiko eines nachlassenden Impfschutzes am größten.“
Laut Beschluss werden nunmehr alle Länder Impfungen für 12- bis 17-Jährige auch in Impfzentren oder auch mit anderen niedrigschwelligen Angeboten anbieten. Für die Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Universitäten und Berufsschulen machen die Länder strukturierte, niedrigschwellige Angebote oder solche in Kooperation mit den Impfzentren. Darüber hinaus können Kindern niedrigschwellige Angebote gemacht werden, hieß es. Weiterhin einigten sich die Gesundheitsminister auch bei Auffrischungsimpfungen: Es wird ab September 2021 im Sinne einer gesundheitlichen Vorsorge in Pflegeeinrichtungen, Einrichtungen der Eingliederungshilfe und weiteren Einrichtungen mit vulnerablen Gruppen eine Auffrischimpfung in der Regel mindestens sechs Monate nach Abschluss der ersten Impfserie angeboten.
Bisherige Studiendaten zeigten, dass insbesondere diese Gruppen von einer Auffrischimpfung profitieren. Die Auffrischimpfungen erfolgen mit einem der beiden mRNA-Impfstoffe, dabei sei es unerheblich, mit welchem Impfstoff die Personen vorher geimpft worden sind, heißt es im Beschluss.
Politik setzt sich über Stiko hinweg
Mit dem einstimmigen Beschluss setzen sich die Gesundheitsminister der Länder und das Bundesgesundheitsministerium über die Empfehlung der Ständigen Impfkommission hinweg. Diese raten nicht pauschal zu einer Impfung der 12 bis 16-jährigen Kindern und Jugendlichen.
Bislang haben erst rund 20 Prozent der Gruppe die erste Spritze erhalten, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn am Samstag auf Twitter. Die Impfstoffe von BioNtech-Pfizer und Moderna sind in der EU für Kinder und Jugendliche von 12 bis 18 Jahren zugelassen.
Zuvor hat Stiko-Chef Thomas Mertens gewarnt, dass es zu wenig aussagekräftige Daten zu möglichen Gesundheits- oder Folgeschäden bei Jugendlichen existiere: „Wir sagen, wir können nicht eine generelle Empfehlung aussprechen, solange wir diesbezüglich nicht die notwendige Datensicherheit haben.“
Mertens räumte ein, dass er und seine Kollegen den öffentlichen und politischen Druck spüren würden. Dies dürfe jedoch keinen Einfluss auf die Entscheidung haben.
„Es kann durchaus sein, dass wir unsere Empfehlung ändern werden, aber sicher nicht, weil Politiker sich geäußert haben.“
so Mertens.
Gegenüber der „Welt“ betonte er: „Unsere Aufgabe ist, auf der Grundlage aller verfügbaren Erkenntnisse die beste Impfempfehlung für die Bürger dieses Landes und auch für die Kinder dieses Landes zu geben“. Daran arbeite man derzeit „außerordentlich intensiv“.
Kubicki: „Möglicherweise eine Straftat“
Der stellvertretende FDP-Chef Wolfang Kubicki kritisierte und warnte die Gesundheitsminister eindringlich, sich nicht über die Stiko-Empfehlung hinwegzusetzen.
„Wenn wir eine unabhängige Kommission haben, die das beurteilen soll, dann ist der Verstoß gegen eine solche Empfehlung möglicherweise eine Straftat. Jeder Arzt, der gegen eine nicht vorhandene Empfehlung der Stiko impft, haftet für die Impfschäden, die möglicherweise daraus resultieren“, sagte Kubicki bei „BILD Live“.
Als Jurist könne er „nur dringend davor warnen, von den Regeln, die wir uns gegeben haben, in dieser Frage abzuweichen“.
Kinderärzte und Mediziner skeptisch
Zahlreiche Mediziner, Fachverbände und Kinderärzte halten die Entscheidung, Kinder und Jugendlichen ein Impfangebot zu unterbreiten für verfrüht. Es fehlte die Datenlage.
Der Virologe Dr. Martin Stürmer sagte gegenüber Bild: „Die Stiko macht sich viele Gedanken, wägt Risiken gewissenhaft ab und achtet sehr auf die Sicherheit. Das ist richtig so, denn noch wissen wir nicht genau, wie sicher das Impfen für Kinder ist. Es besteht die Gefahr, dass der Schaden am Ende größer ist als der Nutzen. Deshalb muss gelten: Sicherheit geht vor.“
Der Immunologe Prof. Dr. Christian Bogdan ist STIKO-Mitglied und Direktor des Mikrobiologischen Instituts der Uniklinik Erlangen. Gegenüber BILD erklärt er: „Ich kann mich nur wundern, dass jetzt die Impfung für alle Kinder gefordert wird und dabei die Grundvoraussetzungen für eine Impfempfehlung durch die STIKO quasi ignoriert werden.“
StiKo-Chef Mertens reagiert gelassen
Der Chef der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, reagiert gelassen auf Forderungen der Politik, das Gremium solle zügig empfehlen, Jugendliche ab zwölf Jahren gegen Corona impfen zu lassen.
„Ich hoffe, dass wir das in den nächsten zehn Tagen schaffen„, sagte er dem „Spiegel“. Er könne nicht vorausnehmen, was dann in der überarbeiteten Empfehlung stehen wird.
Bislang spricht sich die Stiko nur für Impfungen bei Jugendlichen ab zwölf Jahren aus, wenn diese Vorerkrankungen haben. „Ich kann nicht versprechen, dass es eine grundsätzliche Änderung bei der Empfehlung geben wird“, so Mertens. Auf den Einwand, die Impfkommission der USA, ACIP, habe eine Empfehlung bereits abgegeben, sagte Mertens, die Stiko könne sich nicht einfach der ACIP anschließen. Die Situation sei nicht vergleichbar, jede Kommission müsse das für ihr Land bewerten.
„In den USA wird die Impfung für 12- bis 17-Jährige empfohlen, aber dort ist auch die Krankheitslast durch Covid-19 in diesem Alter viel größer als in Deutschland„, so Mertens. „Das liegt wahrscheinlich daran, dass dort mehr Kinder ein metabolisches Syndrom (Übergewicht, Bluthochdruck, gestörter Fettstoffwechsel und hoher Blutzucker) haben. Außerdem ist die medizinische Versorgung vieler Kinder in den USA etwas schlechter als bei uns.“ Einen Konflikt mit den Gesundheitsministern der Länder, die eine Empfehlung entgegen der Stiko ausgesprochen haben, sieht Mertens nicht.
„Aktuell fragen mich ja alle, ob ich den Beschluss der Gesundheitsminister als Gegensatz zu unserer Empfehlung sehe. Nein, und ich rege mich auch nicht darüber auf. Das ist eine politische Entscheidung, es ist die Freiheit der Politik so etwas im Sinne der allgemeinen Gesundheitsvorsorge anzubieten.“
WHO warnt: „Wäre schade, Jugendliche dazu zu nutzen, Nachlässigkeiten zu überdecken“
Weltärztepräsident Frank-Ulrich Montgomery warnte auch davor, die Impfung von Jugendlichen als Allheilmittel zu sehen.
„Es wäre schade, wenn man Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren nutzen würde, um Mängel und Nachlässigkeiten bei anderen Personengruppen zu überdecken„, sagte Montgomery dem Fernsehsender Phoenix. Die mangelnde Impfbereitschaft der 18 bis 59-Jährigen sei das eigentliche Problem. Zum einen seien in der Vergangenheit Fehler gemacht worden, als man mit Debatten über einzelne Impfstoffe zur Verunsicherung der Bevölkerung beigetragen habe. „Und wir haben auch keine vernünftigen Anreize für die Impfung“, meinte der Weltärztepräsident, der hinzufügte: „Wenn man nach wie vor als Freiheitsideal vorträgt, dass sich alle dem Druck der Ungeimpften unterwerfen und deren Einschränkungen mit hinnehmen müssen, solange wird das nichts.“