„Wir wollen nicht in eine nationale Gesundheits-Notlage geraten“, sagte Merkel nach der Videokonferenz mit den Länderchefs am Mittwochabend. Deshalb müsse man jetzt handeln.
In zwei Wochen werde man sich erneut treffen, um die Maßnahmen zu bewerten und gegebenenfalls anzupassen, so die CDU-Politikerin. Man wisse bei 75 Prozent der Neuinfektionen nicht mehr, wo sie passiert seien. So sollen ab Montag bis Ende November weitreichende Kontaktbeschränkungen, die Schließung von Unterhaltungseinrichtungen und das Verbot von Übernachtungsangeboten für touristische Zwecke gelten. Restaurants, Bars, Clubs und ähnliche Einrichtungen sollen ebenfalls geschlossen werden, davon ausgenommen sind Take-away- und Lieferdienste sowie Kantinen.
Von Schließungen betroffene Unternehmen mit bis zu 50 Mitarbeitern sollen zudem eine Nothilfe von bis zu 75 Prozent der finanziellen Ausfälle erhalten. Schulen und Kindergärten sollen mit zusätzlichen Schutzmaßnahmen geöffnet bleiben. Profisport-Ereignisse sollen nur noch ohne Zuschauer stattfinden. Groß- und Einzelhandel bleiben geöffnet.
Körperpflege-Dienstleistungen wie Kosmetik-, Massage- und Tattoo-Studios sollen ebenfalls schließen. Ausgenommen sind medizinisch notwendige Dienstleistungen wie Physiotherapie oder Ergotherapie. Auch Friseure sollen offen bleiben.
„Wir müssen handeln, und zwar jetzt!“
Das sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf der Pressekonferenz nach den Bund-Länder-Beratungen. „Wir können sagen, dass unser Gesundheitssystem heute noch mit dieser Herausforderung fertig wird. Aber wenn es mit diesem Tempo weitergeht, kommen wir binnen Wochen an die Grenzen„, so die Bundeskanzlerin weiter. Es seien harte Maßnahmen notwendig – etwa die Kontaktbeschränkungen. Denn die Kurve der Neuinfektionen müsse abflachen.
Thüringen zieht nur bedingt mit
Trotz teils deutlich unterschiedlicher Infektionslagen, würden die Beschlüsse von allen Ministerpräsidenten getragen, so die deutsche Kanzlerin. Dies steht im Gegensatz zu den vorherigen Konferenzen: Dort war es für Merkel nicht möglich, Mehrheiten zu beschaffen und Einigkeit herzustellen. Und dennoch gibt es auch heute einen „Abtrünnigen“: Thüringen trage nur „diejenigen Maßnahmen mit, die für eine wirksame Eindämmung des Infektionsgeschehens durch wissenschaftliche Erkenntnisse geeignet und verhältnismäßig“ seien, heißt es in einer Protokollerklärung der Staatskanzlei.
Geschäfte bleiben offen
Industrie- und Handwerksbetriebe, aber auch Geschäfte sollen geöffnet bleiben. Touristische Übernachtungsangebote würden im November jedoch im Inland verboten, so die Kanzlerin. „Wir fordern Bürgerinnen und Bürger auf, auf Reisen und auch Besuche von Verwandten zu verzichten„.
Die Frage, ob Gastronomien „Treiber“ der Pandemie seien, ließe sich nicht beantworten, so die Regierungschefin. „Wir sind heute an einem Punkt, an dem wir für 75 Prozent der Infektionen nicht mehr auflisten können, woher sie kommen“
Sport- und Freizeitveranstaltungen werden verboten
Für den gesamten November sind deutschlandweit Freizeit- und Unterhaltungsveranstaltungen weitgehend verboten. Betroffen sind hierbei etwa Theater, Opern oder Konzerthäuser.
Der Profisport, wie beispielsweise die Fußball-Bundesliga darf nur noch ohne Zuschauer spielen.
Gottesdienste bleiben weiterhin erlaubt. Die Hygienebedingungen seien jedoch vollumfänglich einzuhalten. Es sei nicht angemessen gewesen, hier Regeln zu verschärfen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder verwies hier auch auf die Religions- und Versammlungsfreiheit, die „besonders sensible und wichtige Grundrechte“ seien.
Mitte November beraten sich Bund und Länder erneut, um, so Merkel, „gegebenenfalls notwendige Anpassungen vornehmen„.
Private Kontakte werden massiv eingeschränkt
Im Monat November werden private Kontakte massiv eingeschränkt. „Der Aufenthalt in der Öffentlichkeit„, heißt es in dem Beschluss, werde „nur mit den Angehörigen des eigenen und eines anderen Hausstandes erlaubt„. Insgesamt sollen nicht mehr als zehn Personen zusammentreffen dürfen. Es sei ein „schwieriger Tag, an den wir uns alle noch lange erinnern werden„, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU).
Hans: „Kein Betrieb soll durch diese neuerlichen Maßnahmen in existenzielle Nöte geraten!“
Der saarländische Ministerpräsident trägt die Entscheidungen auf Bundesebene mit. In einem Statement sagte Tobias Hans (CDU): „Um einen ähnlichen Verlauf der Pandemie wie in vielen Nachbarstaaten noch abzuwenden und eine akute nationale Gesundheitsnotlage zu verhindern, müssen wir jetzt handeln. Die Dynamik des Pandemie-Geschehens ist besorgniserregend. Auch im Saarland ist die Zahl der aktiv Infizierten genau wie die Zahl der stationär und intensiv-medizinisch behandelten COVID-19-Patienten in den vergangenen 14 Tagen deutlich angestiegen. Wenn es uns jetzt nicht gelingt, diese Kurve wieder abzuflachen, droht uns der Kontrollverlust – mit fatalen Folgen für unser Gesundheitssystem. Bereits im Dezember könnten unsere medizinischen Kapazitäten an ihre Grenzen kommen. Noch haben wir die Chance, dieses Szenario zu verhindern – dafür sind aber weitreichende und konsequente Maßnahmen notwendig„.
Demnach sollen sich ab Montag in der Öffentlichkeit nur noch maximal zehn Personen aus dem eigenen und einem weiteren Hausstand aufhalten dürfen. Kinos, Theater, Kosmetik-, Tattoo- und Fitness-Studios werden komplett geschlossen. Veranstaltungen gestrichen und der Vereinssport massiv eingeschränkt.
Der Ministerpräsident führt weiter aus: „Wir haben uns die Entscheidungen heute alles andere als leichtgemacht. Denn uns ist bewusst, was diese Einschränkungen bedeuten – für die Wirtschaft und natürlich für jeden Einzelnen. Um den wirtschaftlichen Schaden der Maßnahmen abzufedern, wird der Bund die unmittelbar betroffenen Betriebe unterstützen und sie mit einer außerordentlichen Wirtschaftshilfe für die finanziellen Ausfälle entschädigen. Kein Betrieb soll durch diese neuerlichen Maßnahmen in existenzielle Nöte geraten!“
Schulen und Kitas sollen offen bleiben
Schulen und Kitas sollen hingegen so lange wie nur möglich offen gehalten werden. Auch Friseursalons sollen unter Einhaltung der Hygieneregeln weiter offen bleiben können. Das Hygienekonzept für Schulen und Kitas soll im Saarland noch einmal überarbeitet werden.
Hans abschließend: „So schmerzlich diese Einschnitte sind, sie sind nötig, um einen noch viel größeren Schaden abzuwenden. Solidarität, Zusammenhalt und Eigenverantwortung waren noch nie so wichtig wie heute. Je früher und besser wir die Infektionswelle jetzt brechen, desto größer stehen die Chancen, dass wir Weihnachten im Kreise unserer Liebsten verbringen können und dass es uns gelingt, die Schulen und Kitas weiter offen zu halten. Das sind wir unseren Familien und den Schülerinnen und Schülern schuldig.“
Rechtsverordnung soll bis Freitag geändert werden
Die bisherige Rechtsverordnung im Saarland soll bis Freitag erneuert und vom Ministerrat beschlossen werden. In der Nacht zum Montag soll sie in Kraft treten.
Virologen & KV fordern Abkehr von Lockdown-Praktik
In einer heutigen Pressekonferenz forderten Wissenschaftler und Ärzte um die Virologen Hendrik Streeck von der Universität Bonn und Jonas Schmidt-Chanasit von der Universität Hamburg eine Abkehr von der bisherigen Sars-Cov-2-Strategie. Es sei an der Zeit, die gewonnenen Erkenntnisse stärker zu berücksichtigen, heißt es in einem Positionspapier mit dem Titel „Gemeinsame Position von Ärzteschaft und Wissenschaft“.
Dieses Positionspapier wird von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und zahlreichen ärztlichen Berufsverbänden, darunter dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und dem Berufsverband der Deutschen Chirurgen – also den Vertretungen praktizierender Ärzte, unterstützt.
Wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften finden sich kaum unter den Unterzeichnern.
Die Virologen setzen nach ihren Aussagen auf Eigenverantwortung. Es wäre „vollkommen ausreichend„, die AHA+L-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmasken, Lüften) umzusetzen. Damit könne man „die Pandemie gut überstehen„, so Virologe Schmidt-Chanasit.
Die Unterzeichner halten es für „weder zielführend, noch verhältnismäßig„, einen pauschalen Lockdown erneut zu praktizieren. Dieser senke kurzfristig die Infektionszahlen, nach wenigen Wochen sei der Effekt verpufft. „Dass es nicht funktioniert, sieht man an Ländern wie Spanien oder Frankreich„, so KBV-Chef Andreas Gassen.
Dagegen haben die wichtigsten deutschen Forschungsorganisationen (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft) sowie die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina noch am Dienstag eine „drastische Kontaktbeschränkung“ gefordert. Diese sollten auf ein Viertel der normalen Kontakte reduziert werden.
Streeck und Schmidt-Chanasit dagegen verweisen auf Nebenwirkungen der bisherigen Strategie. „Wir erleben bereits die Unterlassung anderer dringlicher medizinischer Behandlungen, ernstzunehmende Nebenwirkungen bei Kindern und Jugendlichen durch soziale Deprivation und den Niedergang ganzer Wirtschaftszweige.“ Es sei ohnehin unmöglich, jede Infektion zu unterbinden. „Wir müssen unsere Energien vielmehr darauf setzen, die besonders zu schützen, die diesen Schutz benötigen„, sagte Streeck der Süddeutschen Zeitung.
Eine aktuelle Studie aus Schweden zeigt, dass der Schutz von Risikogruppen nur bedingt ohne Einschränkungen im öffentlichen Leben funktioniert. So starben nicht nur besonders viele Menschen über 70 Jahren in Pflegeheimen, sondern auch dort, wo mehrere Generationen in einem Haushalt leben. Dort war das Sterberisiko um 66 Prozent höher als bei MEnschen, die keine Mitbewohner im „erwerbsfähigen Alter“ hatten.